Warum verschweigt ein besonders hellhäutiger Schwarzer seine afrikanische Herkunft? Warum gibt er sich fortan als weißer Jude aus? Wie fühlt es sich an, seinen Bruder, seine Schwester und sogar seine Mutter faktisch für tot zu erklären? Was ist das für ein Mensch, der den eigenen Kindern ihre Vergangenheit und ihre Verwandten vorenthält? Kann man aufbauend auf einer solchen Lebenslüge ein guter Ehemann und Vater sein? Hat man das Recht eine falsche Identität anzunehmen? All diese Fragen stellte ich mir beim Lesen dieses grandiosen Romans des amerikanischen Autors Philip Roth.
Die dunklen Gestalten
„Kennt jemand diese Leute? Hat sie schon mal jemand im College gesehen, oder sind es dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen?“
Dieser Ausspruch sollte das Leben von Coleman Silk, einem fast siebzigjährigen Literaturprofessor, von Grund auf verändern und mit dieser Geschichte beginnt auch das Buch. Coleman wird Rassismus vorgeworfen, obwohl er die Studenten, um die es ging, zuvor noch nie gesehen hatte. Er wusste gar nicht, dass sie „schwarz“ waren. Vielmehr dachte er an Gestalten der Nacht, die am Tag lieber ausschlafen, als ins College zu gehen. Aber diese Erklärung ließ man nicht gelten, hatte er sich doch in den vergangenen Jahren vor allem bei seinen „arbeitsscheuen“ Kollegen nicht allzu beliebt gemacht. Am Ende gab er seine Professur auf. Seine Frau überlebte diese schreckliche Zeit nicht.
Aber das Perfide an dieser Situation war, dass Coleman selbst ein „Schwarzer“ war, was aber niemand wusste. Wie leicht hätte er sich von diesem Rassismusvorwurf reinwaschen können, wenn er diese Tatsache hätte aufdecken können.
Eine Lebensgeschichte mit Lücken
Zur Vergangenheitsbewältigung versucht Coleman seine Geschichte aufzuschreiben, scheitert aber an der fehlenden Distanz zum Thema. Das Ganze erscheint ihm nur als Rechtfertigung. Alle Erklärungen würden fraglich bleiben. Ihm selbst werde man ohnehin nicht glauben. Er will aufgeben, alles hinter sich lassen.
Nun nimmt er Kontakt zu seinem Nachbarn Nathan Zuckermann auf, der Schriftsteller ist. Beide treffen sich nun regelmäßig und Coleman erzählt ihm seine Lebensgeschichte, allerdings mit einer Ausnahme. Seine afrikanische Vergangenheit verschweigt er auch ihm gegenüber, dieses Geheimnis will er mit in den Tod nehmen. Doch das gelingt ihm nicht ganz, denn am Tag seiner Beerdigung trifft Nathan auf die Schwester von Coleman und erfährt schließlich die ganze Wahrheit.
Rassentrennung mit Folgen
Coleman wuchs in East Orange nahe New York sehr behütet auf. Sein Vater legte Wert auf gute Umgangsformen und feine Sprache. Der Sohn war Klassenbester und sollte in Howard studieren, einer privaten Eliteschule in Washington für ausschließlich afroamerikanische Studenten. In den USA gab es zu dieser Zeit noch strikte Rassentrennung. Dort wurde Coleman das erste Mal „Nigger“ genannt und man wollte ihm bei Woolworth keinen Hotdog verkaufen. An dieser Uni war er zwar der hellhäutigste unter den hellhäutigen Schwarzen, aber er kam sich inmitten der reichen Oberschicht der Schwarzen Studenten wie der „schwärzeste, ungebildetste Feldnigger“ vor.
Erst hier in Howard entdeckte Coleman, dass er nicht nur ein Nigger war (in den Augen der Weißen), sondern auch ein Neger (Mitglied der schwarzen Gemeinde). Dieses Wir-Gefühl der Neger wollte er nicht, so war er nicht aufgewachsen. Er war er selbst: COLEMAN. Der Tyrannei des Wir wollte er nicht gehorchen! Er wollte frei sein. Frei von der Vergangenheit. Frei von allen Hindernissen.
Als sein Vater starb, verließ Coleman ohne zu Zögern die Universität und meldete sich im Oktober 1944 bei der Armee. Bei der Aufnahme musste er einen Fragebogen ausfüllen, in dem auch die Rassenzugehörigkeit abgefragt wurde. Hier bekam er die einmalige Gelegenheit, sich eine Rasse auszusuchen. Damit begann seine große Lebenslüge, die er nie wieder berichtigen sollte.
Der menschliche Makel
Im Buch gibt es eine Stelle, die etwas zum dem Titel des Buches sagt. Sie befasst sich allerdings mit dem Verhältnis Mensch/Tier. Dort wird ausgeführt: „Die Berührung durch uns Menschen hinterlässt einen Makel, ein Zeichen, einen Abdruck. Unreinheit, Grausamkeit, Missbrauch, Irrtum, Ausscheidung, Samen – der Makel ist untrennbar mit dem Dasein verbunden. Er hat nichts mit Ungehorsam zu tun. Er hat nichts mit Gnade oder Rettung oder Erlösung zu tun. Er ist in jedem. Eingeboren. Verwurzelt. Bestimmend. ….. Der Makel, der dem Ungehorsam vorausgeht, der den Ungehorsam einschließt und jedes Erklären und Begreifen übersteigt.“
Ergibt sich hieraus eine Erklärung für das Verhalten von Coleman. Gibt es nicht im Leben eines jeden Menschen Entscheidungen oder Verhaltensweisen, die sich nicht einfach aus der Logik erklären lassen und gängigen Moralvorstellungen widersprechen? Hat nicht jeder solch ein Geheimnis? Ist das nicht genau die Eigenschaft, die uns Menschen von den Maschinen unterscheidet?
In diesem Roman gibt es viele Geheimnisse, die oftmals erst später oder gar nicht bekannt werden. Davon lebt diese Geschichte.
Ein grandioser Roman
Der Roman behandelt noch so viele andere Themen, die ich gar nicht alle aufzählen kann und möchte. Auf jeden Fall sollte man sich sehr viel Zeit nehmen für dieses Buch. Denn der Autor Philip Roth versteht es meisterhaft die unterschiedlichsten Situationen und Menschen detailgenau und tiefgründig zu beschreiben. Sei es der sinnliche Vorgang des Melkens der Kühe, die Beschreibung des besten Hakens, den ein Boxer je geschlagen hat, die Veränderung eines Menschen nach seiner Rückkehr aus dem Vietnamkrieg, die Suche einer Frau nach dem Mann, der sie erkennen wird, oder auch so etwas Banales wie das wirre Haar der Ehefrau „ein labyrinthischer, wuchernder Kranz aus Locken und Spiralen, so wirr wie ein Fadenknäuel und ausladend genug, um daraus eine Weihnachtsdekoration zu basteln“. Das ist wirklich große Erzählkunst, aber ohne übertriebenes Pathos.
Anfangs hatte ich persönlich Probleme, die Gefühlswelt des alternden Literaturprofessors nachzuvollziehen. Wie schon so oft bei amerikanischen Autoren konnte ich mich nicht in die Protagonisten hinein versetzen. Aber letztendlich behandelt der Roman so viele Facetten des Lebens, dass die fehlende Empathie mit Coleman in den Hintergrund rücken konnte.
Besonders das letzte Kapitel ist mir sehr nahe gegangen. Die Begegnung des Schriftstellers mit der Schwester am Tag der Beerdigung von Coleman. Hier entfaltet sich am Ende noch eine ganz neue Sicht auf den Protagonisten. Im Übrigen hatte ich plötzlich gar nicht mehr das Gefühl, es gehe um eine fiktive Romanfigur. Es war so, als wenn ich Coleman persönlich gekannt hätte. Das war schon ein eigenartiges Gefühl, so in den Bann einer Geschichte hinein gezogen zu werden.
Philip Roth – Der menschliche Makel
Rowohlt Taschenbuch, Oktober 2003
Taschenbuch, 400 Seiten, EUR 12,00 [DE]
ISBN: 978-3-499-23165-0
Den menschlichen Makel könnten Christen als Erbsünde übersetzen.
Was es in einer Gesellschaft, die tief vom Rassismus geprägt ist, bedeutet, nicht zur Mehrheitsgruppe zu gehören, das hat der Autor wohl mit tiefer Gründlichkeit herausgestellt.
Prima, wie dieses Buch dem Leser ans Herz gebracht wird.
Ja, der Wunsch von Coleman, einfach nur er selbst zu sein – nicht Nigger und nicht Neger – das ist für uns selbstverständlich. Wir kennen keine Ablehnung, weil wir zur falschen „Rasse“ gehören würden oder eine falsche Hautfarbe hätten. In diese Lage können wir uns wohl nie hinein versetzen. Ich hoffe – angesichts der Tatsache, dass Amerika inzwischen einen schwarzen Präsidenten hatte und nun auch eine Vize-Präsidenten, die nicht zur „weißen“ Bürgerschicht gehört, man irgendwann lernt, dass es auf die Hautfarbe oder Herkunft nicht ankommt. Wir sind alle Menschen. Und ob wir gut oder böse, dumm oder intelligent sind, das ist nicht durch irgendeine Rasse begründet.
Und danke nochmals , dass du mir dieses tolle Buch ausgeliehen hast.
Der muss schon gut sein der Philip Roth, wenn es so nachhaltig auf dich gewirkt hat wie schreibst. Aber im Ernst unsere Makel sind es doch die uns erst gegenseitig interessant machen. Makellos wäre ja perfekt und das kann man wohl nur von in Serie produzierten Maschinen sagen. Je mehr es davon gibt desto gewöhnlicher sind sie. Das sollte uns Menschen besser nie wiederfahren.
Ja, das sehe ich ja auch so. Menschen ohne Makel wären Maschinen. Das Menschsein ist geprägt durch Anderssein und Selbstbewusstsein.
Aber leider sind nicht alle dieser Meinung. Und das schlimmste Beispiel sind Rassismus und Nationalismus. Denn leider gibt es genug Köpfe in unserer Welt, die andere Menschen allein nach ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe bewerten. Dabei ist gerade das überhaupt kein „Makel“.