Wie geht man damit um, wenn der eigene Bruder sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hatte? Findet man eine Entschuldigung dafür? An welchen Greueltaten hat er mitgewirkt? Kann man offen darüber reden? Ist man als Blutsverwandter automatisch mitschuldig? All diese Fragen bewegen heute vor allem die Kinder und Enkelkinder der Kriegsgeneration. Uwe Timm hat sich diesem Thema in seinem Buch „Am Beispiel meines Bruders“ autobiographisch genähert.
Ein kurzes Leben
Sein Bruder, Jahrgang 1924, hatte sich im Dezember 1942 mit 18 Jahren aus der Hitlerjugend heraus freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Mit der Totenkopf-Division war er in Rußland stationiert. Bereits nach einen halben Jahr im Einsatz verstirbt er im Oktober 1943 in einem Lazarett in der Ukraine. Er hinterlässt ein dünnes Tagebuch mit stichwortartigen Einträgen.
Was übrig bleibt ist ein dünnes Tagebuch
Als sein Bruder starb, war der Autor erst drei Jahre alt. Er selbst kennt seinen Bruder fast nur aus Erzählungen der Eltern. Aber diesen Erzählungen mag er nicht trauen. Denn was diese Generation ausmacht, ist vor allem das Verschweigen. So bleiben ihm vom Bruder nur die wenigen Einträge in dessen Tagebuch und ein paar Feldpostbriefe, die die Eltern noch aufbewahrt hatten.
„… ein Fressen für mein MG“
Viele Einträge im Tagebuch sind belanglos, manche geben aber Rätsel auf. Was zum Beispiel ist mit „viel Beute“ oder „große Läusejagd“ gemeint? Und es gab Stellen, die eindeutig waren. „Brückenkopf über den Donez. 75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG.“
Freiwillig
Warum hatte der Bruder sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Die Mutter sagt: „Aus Idealismus. Er wollte nicht zurückstehen. sich drücken. Ich war dagegen.“ Und was war mit dem Vater? Uwe Timm schreibt: „Es hieß, …. der Vater hätte nicht zugeredet. Aber dessen bedurfte es auch nicht. Es war nur die wortlose Ausführung von dem, was der Vater im Einklang mit der Gesellschaft wünscht.“
Wie kann man diese Zeit verstehen?
Uwe Timm recherchiert weiter. Er liest einschlägige Literatur, will Einsicht nehmen in die Kriegstagebücher der Totenkopfdivision von 1943. Doch die Akte war leer. Eine Fahrt in die Ukraine zu den Kriegsschauplätzen soll beim Verstehen helfen. Ebenso die Erinnerungen an seine eigene Kindheit. Er schildert das Leben seiner Eltern und seiner älteren Schwester. Und immer wieder studiert er die kargen Einträge im Tagebuch seines Bruders.
Ein Buch, das berührt!
Der Autor lässt seine Leserschaft an allen wichtigen Erkenntnissen und Gedanken teilhaben. Das Buch umfasst nur knapp 160 Seiten, aber es hat mich sehr berührt. Und mit dem Lesen dieses Buches setze auch ich mich mit meiner Vergangenheit auseinander.
Das haben wir nicht gewusst
Diesen Satz habe ich persönlich von meiner Mutter gehört, als ich sie einmal gefragt habe, wie es passieren konnte, dass so viele Juden verschleppt und ermordet wurden. Mit meinen Großeltern und mit meinem Vater habe ich über diese Dinge nicht gesprochen.
Heute bedaure ich das. In meiner Schulzeit war das noch kein Thema. Erstmals 1979, als die amerikanische TV-Serie Holocaust im deutschen Fernsehen gezeigt wurde, ist mir bewusst geworden, welches Unrecht an den Juden begangen wurde.
Es braucht Mut
Ich war nicht mutig genug, bei meinem Vater oder meinem Großvater nachzufragen, ob sie an diesem Unrecht beteiligt waren. Heute ist es zu spät – sie leben beide nicht mehr. Vielleicht ist es besser so – für mich und mein Gewissen.
Uwe Timm hat es sich nicht so leicht gemacht. Dafür ist ihm zu danken. Aber auch er hat dieses Buch erst geschrieben nachdem die Eltern und auch die Schwester gestorben waren. Erst da fühlte er sich frei, all die Fragen stellen zu können, die er in Bezug auf seinen Bruder hatte.
Elke Heidenreich hat zu diesem Buch gesagt: „Die Jungen sollten es lesen, um zu lernen, die Alten um sich zu erinnern, und alle, weil es gute Literatur ist.“ Dem habe ich nichts hinzuzufügen.
Uwe Timm – Am Beispiel meines Bruders
dtv Literatur, April 2005
Taschenbuch, 160 Seiten, EUR 9,90 € [DE]
ISBN 978-3-423-13316-6
Unerwartet tauchen manche Erinnerungen aus Kindheitstagen auf. Wo lernte ich den Singsang von den Juden, die dahin, daher ziehen? Sie zieh’n durchs Rote Meer. Die nächsten beiden Zeilen sind mir auch noch präsent. Den Reim habe ich als Vierjährige nicht selbst erfunden.
Ja, liebe Gertrud, ich merke schon – auch bei Dir springt das „Kopfkino“ beim Lesen dieses Buches an. Auch ich musste öfters innehalten und die Gedanken gingen zurück, wenn auch nicht so weit zurück wie bei Uwe Timm oder bei Dir. Denn zum Glück war ich in dieser grausamen Zeit noch gar nicht geboren. LG Helmi