Was verbindet zwei so unterschiedliche Frauen wie Sally und Liss? Die eine, noch keine 18 Jahre alt, nimmt kein Blatt vor den Mund, reagiert oftmals wütend und aggressiv. Die andere, Mitte vierzig, lebt wortkarg und in sich gekehrt alleine auf einem alten Bauernhof. Zu Anfang eine schwierige Begegnung, am Ende aber eine tiefe Freundschaft. Wie das passiert, das wird in diesem Buch einfühlsam geschildert.
Begegnung von zwei unterschiedlichen Frauen
Sally, ein junges Mädchen, noch keine 18 Jahre alt, entflieht der Welt der Erwachsenen. Diese Welt erscheint ihr zunehmend unehrlich, das Interesse der Eltern und Lehrer an ihr selbst nur geheuchelt. Das Zuhause, eine Wohnung wie aus dem Katalog: geschmackvoll und elegant, weniger zum Wohlfühlen. Sie begehrt dagegen auf und verhält sich immer wütender und aggressiver gegenüber ihrer Umwelt.
So packt Sally ihren Rucksack und macht sich auf den Weg ins Ungewisse. Sie ist auf der Flucht vor sich selbst und allen anderen. In dieser Situation trifft sie auf einem Wirtschaftsweg auf Liss.
Liss, Mitte vierzig, lebt zurückgezogen auf einem alten Bauernhof. Wortkarg und in sich gekehrt verrichtet sie die schwere und oftmals monotone Arbeit auf dem Feld.
Auf dem Weg zu den Weinstöcken kommt sie mit ihrem Traktor vom Weg ab und bleibt im Graben liegen. Hier trifft sie auf Sally und bittet sie, ihr dabei zu helfen, den Traktor wieder aufzurichten.
Damit beginnt die Geschichte dieser beiden sehr unterschiedlichen Frauen. Am Ende des Tages darf Sally bei Liss übernachten. Was zunächst für eine Nacht gedacht war, dauert schließlich mehrere Wochen.
Beginn einer tiefen Freundschaft
Eingebettet in wunderbar sinnliche Beschreibungen der Landschaft, der Ernte, der Weinlese, Brot backen, Schnaps brennen und überhaupt der körperlichen Arbeit kommen sich die beiden zunächst sehr unterschiedlichen Protagonisten näher.
Für die junge Sally ist es eine neue Erfahrung, dass jemand zu ihr klare und eindeutige Worte spricht. Liss stellt keine Fragen, in der schon Befehle stecken. „Sie benutzt nicht eines der Wörter, die die anderen benutzen, um nicht zu sagen, was sie sagen wollten.“ Nein, sie stellt echte Fragen, und erwartet eine ehrliche Antwort oder keine. Dagegen kann sie sich nicht wehren. Ihre Wut und Aggression laufen ins Leere.
Für Liss hingegen bekommt das Leben durch Sally wieder mehr Farbe. „Das Mädchen machte, dass ihre Tage länger wurden und nicht mehr so unbemerkt verflogen.“
Die zahlreichen Fragen von Sally nach ihrer Vergangenheit wehrt sie aber lange ab. Und auch sie selbst wollte lieber nichts über das Mädchen wissen.
Denn mit jeder Frage und jeder Antwort spann man einen Faden zum Gegenüber. „Wenn man von jemandem alles wusste, dann konnte man ihn an tausend Fäden halten.“ Das hatte Liss selber leidvoll erfahren, und viel zu spät gelang es ihr, die Fäden zu zerschneiden. „Junge Bäume müssen nicht gerade wachsen, sie tragen auch so viele Früchte.“ Doch ihre Kindheitserfahrungen waren andere. „Vor der Arbeit kannst Du nicht davonlaufen. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Das waren die Worte des Vaters. Groß geworden in diesem strengen Korsett, schaffte sie es später kaum ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen bzw. danach zu leben. Deswegen ließ sie Sally viel Raum, damit diese selber entscheiden konnte, was ihr guttat und was nicht.
Innerhalb weniger Wochen entsteht eine tiefe Freundschaft mit gegenseitigem Respekt und Achtung. Nach und nach erkennen beide, dass die jeweils andere leidvolle Erfahrungen gemacht hat, die tiefe Wunden hinterlassen haben. Und beide lernen es, die andere auf einfühlsame Weise bei der Bewältigung der Probleme zu unterstützen.
Alte Sorten
Etwas abseits vom Hof gab es einen großen verwilderten Garten, voll mit Blumen und Unkraut. Und mittendrin – in Reih und Glied – Birnbäume – alte Sorten. Die Bäume waren noch vom Vater gepflanzt worden – „akkurat in Reihen“. Alles musste seine Ordnung haben. “Lesen war nicht in Ordnung. Musik hören war nicht in Ordnung. Dinge sein lassen, wie sie sind, war schon gar nicht in Ordnung. Bäume kann man an einen Pfahl binden, damit sie gerade wachsen. Er hat sein Leben lang gedacht, dass man das auch mit Menschen machen kann.“
Nachdem der Vater weggezogen war, hat Liss diesen Garten sich selbst überlassen. Nur einmal im Jahr – zur Ernte – betritt sie diesen Garten. Das Ergebnis war ein richtiger Zaubergarten und die Erkenntnis, dass man nicht alles in Form pressen muss. Dies gilt wohl auch für die Freundschaft. Man muss der anderen Luft zum Leben lassen und sie nehmen, wie sie ist. Nur daraus erwächst dann eine tiefe und wahrhaftige Freundschaft.
Eine einfühlsame Erzählung
Der Roman ist etwas für stille Stunden. Erzählt wird abwechselnd aus der Perspektive von Liss und Sally. Durch ganz unterschiedliche Stimmungsbilder, Empfindungen und Sprache taucht man einerseits in die gemäßigte, die Gefühle oftmals unterdrückende Erwachsenenwelt, andererseits dann in die ungestüme und ungeduldige Teenagerwelt ein. Stilistisch außergewöhnlich sind dabei einige Sätze mit Aufzählungen ohne jedes Komma. Was zunächst nach einem Fehler aussieht, das erkennt man später als ein Trommelfeuer an Empfindungen, das auf die junge Sally einprasselt. Ansonsten sind es eher leise und einfühlsame Worte, mit denen die Geschichte erzählt wird. Ein Buch, das eher entschleunigt, als dass es aufregt. Man muss bereit sein, in die jeweilige Person zu schlüpfen. Und das macht einem der Autor sehr leicht. Er schafft es scheinbar mühelos, sich in der Gedankenwelt des Teenagers ebenso authentisch zu bewegen wie in der ihm bekannten Erwachsenenwelt. Zum Ende hin kommt auch noch ein wenig Spannung auf, da nach und nach die Vergangenheit von Liss noch einiges an Überraschungen bereithält, was ich aber an dieser Stelle nicht verraten möchte.
Ewald Arenz – Alte Sorten
DUMONT, Juli 2020
Taschenbuch, 256 Seiten, EUR 10,00 [DE]
ISBN 978-3-8321-6530-7
Vom Titel her und auch vom Cover würde ich nun nicht so eine Geschichte vermuten. Interessant ist, dass man das Buch mehrdeutig verstehen kann. Einmal die Geschichte wie sie ist. Aber auch als Metapher für so viele Teenager die den Drang verspüren aus ihrem Elternhaus regelrecht aus zu brechen, um das Leben selbst zu erleben.
Die Rezension ist dir prima gelungen. Ich kann mir gut vorstellen worauf ich mich bei diesem Buch einlassen würde.
Ja, nicht immer kann man vom Buch-Cover auf die Geschichte schließen. Obwohl das Cover – vor allem in einer Buchhandlung – immens wichtig ist. Denn es entscheidet darüber, ob man das Buch spontan in die Hand nimmt oder nicht. Und das ist ja bekanntlich der erste Weg, das (Kauf)Interesse zu wecken. Ich selber hätte das Buch anhand des Covers niemals ausgewählt. Deshalb könnte man zu Recht die Frage stellen, ob das Cover richtig gewählt wurde. So bin ich bin aber dankbar, dass Barbara mir dieses Buch geliehen hatte und ich deshalb in den Genuss dieser schönen Geschichte gekommen bin. Danke für deinen Kommentar.
Alte Sorten sind alten Menschen, die auf dem Land groß wurden, vertraut. Sie wuchsen in Omas Garten und blieben in Erinnerung. Was daraus werden kann, macht neugierig zu lesen, denn die Rezension ist so angelegt, dass man weiß, was einen erwartet, wenn man dieses Buch zur Hand nimmt. Ich will es wissen.
Inzwischen hat es sich wohl rumgesprochen, dass die alten Obstsorten viel gesünder und aromatischer sind als neue. Sie müssen nicht ohne Makel sein, dafür aber gut schmecken. Hoffen wir, dass sich diese Erkenntnis weiter durchsetzt. Neben der Geschichte der beiden Frauen werden das Landleben und die einfache, körperliche Arbeit sehr schön beschrieben. Für mich “Stadtkind” jede Menge neue Erkenntnisse -:)Danke für deinen Kommentar.